Inmitten einer zuspitzenden Wohnraumkrise schlägt Bundeskanzler Olaf Scholz einen ungewöhnlichen Weg vor, um dem akuten Mangel an bezahlbarem Wohnraum zu begegnen – einen Rückgriff auf die Baupraktiken der Siebzigerjahre. Die Idee: Die Schaffung von 20 neuen Stadtteilen, die schnell und effizient errichtet werden sollen, orientiert an den Prinzipien der Vergangenheit.
Die Wohnungsnot, insbesondere im bezahlbaren Segment, spitzt sich dramatisch zu, und die Baubranche steckt in einer tiefen Krise. Diese Problematik wurde bereits in unserem Blogeintrag Mietspiegel München beleuchtet. Leider hat sich seither wenig Positives entwickelt, denn die Bautätigkeit stagniert, und die Zahl der fehlenden Wohnungen steigt unaufhaltsam an.
Der Handlungsbedarf ist offensichtlich, bereits schon lange. Und endlich scheint auch auf Bundesebene ein Umdenken einzusetzen, wenn auch mit einem umstrittenen Lösungsansatz.
Um der wachsenden Wohnungsnot Herr zu werden, schlägt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) einen radikalen Ansatz vor. Bei einer Veranstaltung der Zeitung „Heilbronner Stimme“ äußerte er, dass Deutschland 20 neue Stadtteile benötige, angelehnt an die Bauaktivitäten der Siebzigerjahre. Das Bauen auf der sogenannten grünen Wiese, das in den letzten Jahren nicht favorisiert wurde, sei jedoch notwendig, so Scholz.
Er plädiert für eine politische Verabredung, mehr Bauland bereitzustellen und auch höhere Bauten zuzulassen, wo dies bisher verhindert wurde.
Serieller, günstiger Bau von Großsiedlungen am Stadtrand als Lösung für die Wohnungsnot?
Wohnungsnot und Kritik an Olaf Scholz‘ Lösungsvorschlag
Großsiedlungen auf der grünen Wiese wurden in ihrer Entstehungszeit als Höhepunkt modernen Städtebaus gefeiert. Man versprach sich, den eingezwängten Bewohnern durch Licht, Luft und Sonne eine verbesserte Lebensqualität zu bieten. Doch schnell gerieten diese Stadtlandschaften in die Kritik. Die standardisierten Bauten, die schon bald als „Wohnsilos“ und „Betonburgen“ betitelt wurden, wurden zum Symbol einer gescheiterten Wohnungspolitik.
Insbesondere die negativen sozialen Auswirkungen, verstärkt durch den Wandel der Bewohnerstruktur von einem mittelständischen Milieu zu Migration und Arbeitslosigkeit, führten zu einem schlechten Image der Siedlungen.
Ihre periphere Lage am Stadtrand und die daraus resultierende schlechte Erreichbarkeit trugen dazu bei, dass sich die Siedlungen zu monofunktionalen Vierteln entwickelten. Auch wenn viele der Gebiete heute zwischen den Städten eingewachsen sind, stellen sie bis heute oftmals isolierte Bereiche dar, nicht integriert in die Strukturen der Stadt.
Ein entscheidender Blickpunkt ist der Klimaschutz im Kontext der geplanten Großwohnsiedlungen. Der Einsatz von Beton in bislang unberührten Gebieten steht in deutlichem Kontrast zu den aktuellen Klimaschutzzielen. Beton mag zwar kostengünstig, langlebig, feuerfest und rostfrei sein, doch seine Produktion emittiert erhebliche Mengen CO2.
Die ökologischen Bedenken erstrecken sich auch auf die langen Pendelstrecken von der Peripherie in die Stadt. Diese sind, wie bereits erwähnt, nicht nur aus sozialer Perspektive problematisch, sondern auch aus ökonomischer und ökologischer Sicht bedenklich. Der Ausbau von U- und S-Bahnnetzen erfordert Zeit und birgt hohe Kosten. Die Bewohner sind für Fahrten in die Stadt meist auf Pkws angewiesen.
Besonders besorgniserregend sind die Auswirkungen der zunehmenden Flächenversiegelung. Laut Bundesumweltministerium werden täglich 54 Hektar Fläche für Siedlungen oder Verkehrsanlagen ausgewiesen – ein Verbrauch von über 70 Fußballfeldern pro Tag. Von 1992 bis 2020 gingen in Deutschland allein rund 1,45 Millionen Hektar an landwirtschaftlicher Nutzfläche verloren. Das entspricht etwa der Größe von Schleswig-Holstein.
Dies führt zur Beeinträchtigung und Zerstörung natürlicher Lebensräume, des Wasserhaushalts und der Biodiversität. Die Bodenversiegelung bedeutet einen unwiederbringlichen Schaden, und Deutschland hat sich verpflichtet, den Bodenverlust bis 2030 auf null zu senken. Der Großsiedlungsansatz von Scholz widerspricht somit grundlegend den Zielen nachhaltiger Entwicklung.
Wohnungsnot und Kritik an Olaf Scholz‘ Lösungsvorschlag
Angesichts dieser Herausforderungen stellt sich die Frage nach der Zukunftsfähigkeit von Großsiedlungen als Siedlungsform. Trotz wirtschaftlicher Notwendigkeiten und durchdachter Überlegungen bleiben erhebliche Zweifel, ob diese städtebaulichen Modelle mit ihren aktuellen sozialen Strukturen Potenzial für eine zeitgemäße Weiterentwicklung bieten.
Es gibt durchaus Alternativen:
**Optimierung bestehender Strukturen:** Durch den Ausbau und die Aufstockung bereits existierender Gebäude, könnte effizienter Wohnraum geschaffen werden. Leerstehende Dachgeschosse oder Speicher innerstädtischer Wohnhäuser bieten hierbei beträchtliches Potenzial. Ebenso niedrige Gebäude, wie beispielsweise eingeschossige Supermärkte, die gleich um mehrere Wohngeschosse aufgestockt werden könnten.
**Umnutzung von Bürogebäuden:** Angesichts steigender Leerstandsquoten von Bürogebäuden könnte eine Umnutzung zu Wohnzwecken eine sinnvolle Alternative sein. Dies würde nicht nur innerstädtischen Raum nutzen, sondern auch die bestehende Infrastruktur optimal ausnutzen.
**Bauüberhang und Baugenehmigungen:** Eine kritische Betrachtung des Bauüberhangs, also der Zahl genehmigter, aber noch nicht fertiggestellter Wohnungen, könnte Anreize für eine Förderung und Vereinfachung von Bauprozessen schaffen. Damit ließe sich das Ziel einer verstärkten Fertigstellung von Wohnraum erreichen.
**Revitalisierung alter Industrieflächen:** Brachliegende Industrieareale könnten durch die Schaffung von Wohnraum nicht nur sinnvoll genutzt, sondern auch die Flächenversiegelung reduziert werden.
Insgesamt bieten diese Alternativen eine Möglichkeit, den Herausforderungen des Wohnraummangels zu begegnen, ohne auf kostspielige und ökologisch bedenkliche Großsiedlungen zurückzugreifen.
Welche Ideen sind noch denkbar?
Februar 2024 / Verena Butschal
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